Zeitgemäße Theologie mit rechter Gehirnhälfte? Gedanken zu Daniel H. Pinks “A whole new Mind: Why Right-Brainers will Rule the Future“

Das Buch ist zwar mittlerweile zehn Jahre alt, doch trifft es umso mehr voll ins Schwarze: Daniel H. Pinks “A whole new Mind: Why Right-Brainers will rule the Future“. Selten hat mich ein Buch - und dazu noch ein nicht explizit christliches - so sehr in seinen Bann genommen und mich trotz vieler mir bekannter Ansätze überwältigt und gleichzeitig darin bestätigt, was eigentlich längst vor meiner Nase lag. Kurz gesagt: Pink bringt das auf den Punkt, was sich mir mehr und mehr offenbart hat, und macht quasi aus der Not eine Tugend, die nicht nur mich in vielerlei Hinsicht gedanklich befreit hat, sondern auch vielen Menschen helfen dürfte, ihre Identität bewusst zu ergreifen und zu einer Stärke umzukehren.

Soweit ein erster Ausdruck meiner emotionalen Sicht, wie sie u.a. in diesem Buch bewusst hochgehalten wird - der rechten Gehirnhälfte gemäß; meiner linken Gehirnhälfte entsprechend soll nun aber auch eine strukturierte Analyse folgen, die hoffentlich die Stärken und Notwendigkeit von Pinks Buch zum Ausdruck bringen.

Weil Pinks Buch zu allererst ein Werk aus dem Business-Bereich ist, fokussiert er sich auch v.a. auf den Aspekt von Erfolg, weshalb seine These lautet: “In diesem Buch wirst Du die sechs essentiellen Begabungen (kennen)lernen - die ich “die sechs Sinne“ nenne -, von denen professioneller Erfolg und persönliche Zufriedenheit zunehmend abhängig sein werden. Design. Geschichte. Symphonie. Empathie. Spiel. Bedeutung. Dies sind fundamentale menschliche Fähigkeiten, die jeder bewerkstelligen kann - und mein Ziel ist, Dir dabei zu helfen.“ (2; meine Übersetzung)

Pink greift dafür auf Ergebnisse aus den Neurowissenschaften zurück, auf denen nicht nur seine Thesen fußen, sondern sein Buchtitel: Er ordnet den zwei Gehirnhälften unterschiedliche Fähigkeiten und Charakteristika zu, von denen v.a. Abfolge/Reihenfolge (links; engl. “sequential“) einer Simultanität (rechts) entgegensteht, Text (links) dem Kontext (rechts), und Analytik (links) einer Synthese des großen Bildes (rechts; 17-22). Die letzten Jahrhunderte als Industrie- und  später als Informationszeitalter hätten nun aber, so Pink, mehr und mehr der linken Gehirnhälfte übermäßig viel Aufmerksamkeit und finanzielle Vorzüge gewidmet; Juristen, Ärzte uvm. werden als “knowledge workers“ (29) bezeichnet, die er - berechtigterweise - mit einem gewissen Wohlstand in Verbindung bringt.

Die sechs Sinne bekommen für Pink aus wirtschaftlicher Sicht dadurch ein immer stärkeres Gewicht, dass er anhand der drei Phänomene von Überfluss, Outsourcing und Automatisierung (durch Computer) aufzeigt, wie die Kapazität der linken Gehirnhälfte in ihrer bisherigen Einseitigkeit im angebrochenen sog. “konzeptionellen Zeitalter“ (engl. “conceptual age“) an Bedeutung verliert - in der westlichen Welt -, während die Kapazitäten der rechten Gehirnhälfte gerade an Bedeutung zunehmen (Kap. 2). Zugespitzt formuliert: “Um in diesem Zeitalter zu überlegen, müssen Individuen und Organisationen überprüfen, was sie tun und wie sie ihren Erwerb sichern, indem sie sich drei Fragen stellen:

Kann jemand in Übersee es günstiger?
Kann ein Computer es schneller?
Wird das, was ich anbiete, im Zeitalter des Überfluss Überfluss benötigt?“ (51; meine Übersetzung)

High-Tech allein genügt laut Pink also nicht mehr zum Überleben, weil hoch Konzeptionelles und Anfassbares zu Kernbegabungen der Zukunft werden (Kap. 3). Besonders anschaulich, auch aus wirtschaftlicher Sicht, und überzeugend dürfte dabei sein Verweis darauf sein, dass mittlerweile die Zulassung zu einem Master in Fine Arts (MFA) eingeschränkter sei als ein Master in Business Administration (MBA), denn “ein Master in bildender Kunst, ein MFA (s.o.), gehört mittlerweile zu den heißesten Zeugnissen in der Welt, in der sogar General Motors im Kunstgeschäft tätig ist.“ (54; meine Übersetzung) Auch die Zahl der Grafikdesigner sei um ein Vielfaches in den letzten Jahrzehnten gestiegen, wie er zu belegen versucht (55). Und nicht zuletzt verweist Pink auf Daniel Golemans bahnbrechende Studie zur emotionalen Intelligenz, nach der lediglich 4-10 Prozent des Karriere-Erfolgs vom IQ abhängig sei (57f.).

Ob diese Zahlen allesamt so präzise stimmen oder nicht, sei dahingestellt. Ich jedenfalls nehme eine immer stärkere Nachfrage nach den sog. “Soft Skills“ wahr, besonders was das zunehmende Interesse innerhalb der Business-Welt betrifft.

Auf den weiteren 200 Seiten des Buches entfaltet er seine sog. “sechs Sinne“, womit er herunter gebrochen folgendes sagen will:

Statt reiner Funktion wird zukünftig mehr und mehr das Design eine Rolle spielen, bei der ein Problem auf kreative Art und Weise gelöst wird (DESIGN).
Statt des faktischen, isolierten Argumentes wird es vermehrt um den narrativen Zusammenhang gehen, in den ein Produkt eingebettet ist (STORY).
Nicht allein der Blick ins Detail, sondern das große Bild wird eine wichtige Rolle spielen (SYMPHONY).
Neben die rationale Analyse eines Problems tritt der Aspekt von Mitgefühl, die Bedeutung von Beziehungen und die Sorge für andere (EMPATHY).
Neben Ernsthaftigkeit tritt die Komponente von Lachen, Spaß, Spielen und Humor (PLAY).
Zu der Ansammlung von materiellem Reichtum kommt die transzendente Dimension, die dem Leben einen höheren Sinn gibt (MEANING).

Warum hat mich dieses Buch nun derart inspiriert und zum Nachdenken gebracht? Das möchte ich im Zuge des Schwerpunkt meines Blogs nachfolgend kurz erläutern, und zwar 1. aus persönlicher Sicht, 2. aus theologisch-kirchlicher Sicht und 3. aus edukativer Sicht.

Vorausschicken sollte ich zu Beginn die Tatsache, dass meine Frau Innenarchitektin und Designern ist. Das bedeutet, sie ist genau dieser kreative Kopf, der hervorragend ausgestattet ist mit allen sechs Sinnen, auf die sich Pink konzentriert, während sie aber bsp. zu Schulzeiten oft mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, da diese Fähigkeiten gegenüber denen der linken Gehirnhälfte nur wenig wertgeschätzt wurden. Umso mehr profitiere ich aber nun besonders von ihrer Design-Affinität, Empathie und dem Versuch, meiner Ernsthaftigkeit einen Strich durch die Rechnung zu machen, weil diese Bereiche bei mir zwar angelegt sind, aber nie geschult wurden (und sie lernt dementsprechend natürlich von meiner Struktur etc.). Mir selbst eröffnet sich dadurch eine ganz neue Dimension von Welt, die einerseits sehr bereichernd ist, mich andererseits aber auch herausfordert. Denn mit einem geschulten Auge und inneren Sinnen für diese Dinge bringt es mir nun auch mehr und mehr Schwierigkeiten, in altbekannten Kontexten zu agieren, die sich einseitig auf die linke Gehirnhälfte konzentrieren: Die Uni, die meisten Kirchen, Arztpraxen etc. Weil diese keine rationalen Dinge, sondern sich eben v.a. mit der rechten Gehirnhälfte verknüpft sind, lassen sich die Emotionen gegenüber fehlendem Design, der Zerstückelung in abstrakte Fakten, das Fehlen des großen Bildes, von Empathie und dem Blick für Transzendenz nicht einfach abschalten oder vergessen. Vieles von diesen Aspekten war mir zuvor schon bekannt, aber nun kann ich es endlich benennen und erklären, was mir früher lediglich ein Gefühl von Unwohlsein bescherte.

Aber lassen sich die sechs Sinne, die Pink uns präsentiert, überhaupt theologisch akzeptieren? Sie lassen sich, würde ich sagen. Man muss nur die Schöpfungsberichte der ersten Kapitel der Bibel ernst genug lesen um zu verstehen, dass Gott kein Gott der Abstraktion, purer Rationalität usw. ist, sondern des Narrativs, der Kreativität, der Empathie und Ganzheitlichkeit. Ich würde sagen, dass wir es hier mit einem klassischen Konflikt zwischen biblisch-hebräischem Weltbild und griechisch-platonisch-aristotelischer Prägung zu tun haben. Um den ganzen Menschen anzusprechen, halte ich es deshalb für unumgänglich, dass nicht nur die Theologie endlich auch die vermeintlich endlichen Dinge als theologisch relevant anerkennt (nicht umsonst bsp. engagiert Gott im Zuge des Baus der Stiftshütte mit Bezalel den Besten der besten Kunstschmiede; vgl. Ex 27ff.). Auch in unseren Kirchen müssen wir ein Gleichgewicht zwischen linker und rechter Gehirnhälfte herstellen; man denke nur an die klassische Predigt, die oftmals abstrakte Gedanken präsentiert statt die Story, von der Pink spricht; 0-8-15-PPTs statt ästhetischer Erlebnisse oder auch vermeintlich richtige Antworten (auf nie gestellte Fragen) statt Mitgefühl - mal ganz pauschal gegenübergestellt. Man könnte das in unterschiedlichste Richtungen weiterdenken; aus Platzgründen halte ich mich an dieser Stelle aber zurück.

Und nicht zuletzt denke ich an den gesamten Zweig des heutigen Bildungssektors. Um nochmals persönlich zu werden: Mehr und mehr fühle ich mich einfach unwohl und fehl am Platz in der klassischen Universität deutsch-humanistischer Prägung - nicht, weil ich nicht durchaus auf höchstem Niveau rational denken, Texte analysieren und abstrakte Gedanken spinnen könnte; aber wenn das das Einzige ist, vernachlässigen wie 50% unserer Lebenswelten, obwohl es eigentlich nicht so sein müsste. Und leider erkenne ich bei den mir bekannten Institutionen und Lehrkörpern auch (so gut wie) keine Bestrebungen, daran etwas zu ändern. Umso mehr freut es mich, dass sich zumindest im privaten Bildungssektor mehr bewegt. Als Studienleiter von IGW weiß ich, wie wichtig uns im Zuge unserer Kompetenz-orientierten Ausbildung Aspekte wie gelebte Spiritualität, Empathie usw. sind; und auch von anderen theologischen Ausbildungsstätten höre ich (zumindest in Teilen) ähnliches.

Wie wäre es, konsequent unsere Leute auch mit den sechs Sinnen auszustatten, sodass unsere Nachwuchsleiter christlicher Prägung nicht nur als Top-Leiter im kirchlichen Sektor gefragt sind, sondern ihre Werte, Persönlichkeit und natürlich sonstigen Skills auch in die klassische Business-Welt tragen könnten, um so wirklich missional zu leben?

Kommentare

Beliebte Posts